7.1.15

[007] sieben

Der Bahnhof ist bei mir mit schönen und manchmal auch mit schmerzlichen Erinnerungen verknüpft. Der Abschied von jemanden ist mitunter schmerzlich, auch wenn es sich nur um einen Abschied von ein paar Tagen handelt. Schön ist es am Bahnhof zu stehen, in Vorfreude auf eine Reise oder in Erwartung auf jemanden, der mit dem Zug ankommt: Ich habe M. vom Zug abgeholt, nach mehreren Wochen Abwesenheit kam sie aus ihrem Urlaub zurück.

Die schmerzliche Seite am Bahnhof zu stehen und zu warten beschreibt Lenka Reinerová in ihrem Buch Das Geheimnis der nächsten Minuten:

»Ich eilte auf den Bahnsteig, kletterte in den Zug, warf mein Köfferchen auf den Platz und trat ans Fenster. Die drei Frauen standen vor dem Wagen. Ohne zu wissen warum, umfing ich sie mit einem Blick, der sie festhalten wollte, meine angstvolle Mutter, meine lebenslustige kleine Schwester und die solide Freundin. […]
Nach den langen Kriegs- und Exiljahren habe ich meine Freundin noch einige Male wiedergesehen. Meine Mutter und Alice wurden von den Nazis umgebracht. Im Wartesaal des Mararykbahnhofes haben wir die letzten Minuten unseres Zusammenseins verlebt.
Wartesäle in Bahnhöfen lassen mich jedesmal ein wenig erschaudern.«

Mit den Ereignissen in Paris (der Terroranschlag auf Charlie Hebdo, bei dem zwölf Menschen getötet wurden) fällt es wieder schwer, belanglos von irgendwelchen glücklichen Momenten zu schreiben. Die Sorge, dass aus der Tat weitere Gewalt folgen könnte, dass die Debatte über die Islamisierung Europas anhält und die Pegida-Befürworter weiteren Zulauf bekommen, ist groß.
Heute las ich in einem Artikel im Zeit-Magazin: »Die Flow-Autorin rät, die negativen Seiten des Lebens zu übertünchen und in einem Heftchen glückliche Momente zu notieren.« Und zwei Absätze weiter dazu die Entgegnung: »Es wird nicht funktionieren. Das Bedrohliche wird seinen Weg auch in das Leben der Abgeschotteten finden: Die Verzweifelten kommen mit Booten übers Meer, die Panzer formieren sich im Osten, der Wasserspiegel steigt auch an der Nordseeküste. Und wer sich weigert hinzusehen, könnte dereinst selbst zu denen gehören, die in Lumpen auf der Flucht sind.« 
Und genau das finde ich sehr wichtig. Das Schöne im eigenen Leben zu sehen heißt ja nicht, woanders wegzusehen, um sich nicht mit dem Wahnsinn in der Welt auseinandersetzen zu müssen, und untätig zu bleiben. Es heißt nur, sich nicht das Leben damit zu versauen, indem man sich nur mit den eigenen belanglosen Luxusproblemen beschäftigt und sie als Grund zum Dauerklagen nimmt, sondern sich klar macht, wie gut wir es haben. Weil wir es so gut haben, können wir die kleinen schönen Dinge wahrnehmen. Aber weil wir es so gut haben, haben wir auch die Verantwortung, uns mit den großen (regionalen, nationalen, internationalen, globalen) Problemen auseinanderzusetzen und wo Hilfe nötig und möglich ist, diese auch zu geben und nicht zu verweigern. Und wo ein Umdenken nötig ist, anfangen es vorzuleben, damit es allen Menschen (und Tieren) besser geht.